Zu viel des Guten? - Wieviel Förderung und Fürsorge braucht mein Kind?
"Und dann braucht man ja auch noch Zeit, um nur dazusitzen und vor sich hinzustarren.“
Dieses Zitat von Astrid Lindgren beschreibt einen Zustand, den in der heutigen Zeit vermutlich die wenigsten Kinder (und Erwachsenen) noch kennen: Zeit, die einfach so zur freien Verfügung steht und in der nichts geplant ist. Dieser „Leerlauf“ scheint nicht in unsere Vorstellung vom Leben zu passen.
"Alles richtig machen" - der Druck der Eltern
Eltern sehen sich mit einer Fülle an Ratgebern und Angeboten konfrontiert, die ihnen suggerieren, das Leben ihrer Kinder in jeder Minute „sinnvoll“ gestalten zu müssen. Oft wird vermittelt, bestmögliche Förderung und schulischer Erfolg für das Kind sei nur auf diesem Weg bzw. mit einer bestimmten Methode zu erreichen.
Da ist es hilfreich, sich als Eltern vor Augen zu führen, dass hinter all den Ratgebern und Angeboten auch wirtschaftliche Interessen und Vermarktungsstrategien stecken. Die Mechanismen unserer konsumorientierten Gesellschaft greifen auch in puncto „Erziehung“, „Elternschaft“ und „Förderung“.
Nicht selten geraten Eltern unter Druck, „alles richtig“ zu machen und mit den anderen bei der Förderung der Kinder „mithalten“ zu können. Zunehmend kreisen die Eltern dann um ihre Kinder. Als sogenannte „Helikoptereltern“ planen sie das Leben der Kinder „optimal“. Eltern organisieren und entscheiden für die Kinder. In der gut gemeinten Absicht, das Kind bestmöglich zu fördern und zu unterstützen, wird den Kindern Vieles abgenommen. Schwierigkeiten werden aus dem Weg geräumt, damit alles (vermeintlich) „glatt“ läuft. Dies birgt einige Risiken: Druck, Stress, enttäuschte Erwartungen bei Eltern und Kindern. Aber auch wenig Raum zur Entwicklung von Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen beim Kind.
"Alles schaffen müssen" - der Druck der Kinder
Fast täglich sitzen mir in meiner Arbeit als Sozialpädagogische Unterstützung am Gymnasium Kinder oder Jugendliche gegenüber, die weinend Sätze äußern wie „ich schaffe das alles nicht mehr“, „mir ist alles zu viel“, „ich hab überhaupt keine Zeit mehr, um meine Freunde zu treffen“. Im gemeinsamen Gespräch wird dann schnell klar, was sich hinter dem „Zuviel“ verbirgt:
Es ist ein tägliches Pensum aus Hausaufgaben, Vorbereitung für Schulaufgaben, Nachhilfeunterricht, Klavierunterricht, Chinesisch, Schwimmen, Fußball, Bogenschießen etc., nicht selten 2-3 Aktivitäten am Nachmittag. Am Wochenende wird noch mehr gelernt, es finden sportliche Wettkämpfe, Musikwettbewerbe oder Trainingsfahrten mit dem Skiclub statt. All das wird organisiert und begleitet von wohlmeinenden Eltern, die nur „das Beste“ wollen. Doch die Kinder fühlen sich überlastet und überwacht.
Deshalb ist immer wieder ratsam, innezuhalten und sich Zeit zu nehmen, um zu überlegen: Was braucht mein Kind wirklich? Was tut ihm gut? Was passt zu uns als Familie? Nicht immer verläuft das Leben geradlinig und nach Plan.
Was ist, wenn sich Kinder so ganz anders entwickeln als erhofft? Wenn das Lernen so anstrengend wird, dass die ganze Familie vor jeder Schulaufgabe zittert? Wie schade, wenn das, was Kindern Spaß machen soll, zu einem „Zuviel“ wird.
Selbstwirksamkeit des Kindes fördern
Kinder brauchen freie Zeit und freien Raum. So ist es ihnen möglich, ein Gespür für sich selbst zu entwickeln und dafür, was sie können, wissen, haben wollen und wer sie wirklich sein möchten.
Kinder, denen dies ermöglicht wird, können eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung aufbauen. Der Begriff meint das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und die Überzeugung, mit seinen Fähigkeiten etwas bewirken zu können. Um Selbstwirksamkeit entwickeln zu können, brauchen Kinder Eltern, die ihnen etwas zutrauen und Freiräume zugestehen. Eltern, die sich auch zurücknehmen können mit eigenen Ängsten und Befindlichkeiten und ihrem Kind „erlauben“, eine eigenständige, unabhängige Person zu sein. So kann das Kind Selbstwirksamkeit erfahren. Es erlebt das Glücksgefühl, selbst etwas geschafft zu haben und erlernt auf der anderen Seite auch den Umgang mit Scheitern.
Hilfreiche Tipps und Grundsätze für Eltern
Hier einige Tipps, Ideen und Anregungen für Sie als Eltern, wie Sie Ihr Kind unterstützen können mit einem gesunden Maß zwischen angemessener Förderung und dem „Zu viel des Guten“:
• Vertrauen Sie in die Fähigkeiten Ihres Kindes
Eine Grundhaltung, die geprägt ist von Akzeptanz, Wertschätzung und dem Vertrauen in die Fähigkeiten Ihres Kindes schafft die Basis für eine stabile Beziehung.
Trauen Sie Ihrem Kind etwas zu! Vertrauen Sie darauf, dass Ihr Kind auch zunächst vielleicht schwierige oder ungünstig anmutende Situationen (wie z.B. die neue Klassenzusammensetzung ohne den besten Freund) meistern kann ohne dass Sie tätig werden.
Auch mit der Übertragung „einfacher Alltagstätigkeiten“ fördern Sie Ihr Kind und geben ihm Handwerkszeug fürs Leben mit. Suchen Sie altersentsprechende Tätigkeiten aus und zeigen Sie dadurch, dass Sie Ihrem Kind etwas zutrauen.
• „Du bist gut so, wie du bist“
Indem Sie Interesse an Ihrem Kind unabhängig und abseits von Leistung zeigen, vermitteln Sie ihm das Gefühl „Du bist gut so, wie du bist“ und stärken sein Selbstwertgefühl
• Raum für eigene Lösungen
Wenn Sie Ihrem Kind nicht „jeden Stein“ aus dem Weg räumen, ermöglichen Sie ihm, eigene Lösungen für Problemstellungen zu finden.
• Freiräume sind wichtig
Ermöglichen Sie Ihrem Kind „echte Freiräume“: Zeiten, in denen nichts geplant ist und Ihr Kind das tun kann, worauf es Lust hat.
Schaffen Sie Möglichkeiten für spontane Verabredungen mit Freunden und halten Sie auch Wochenenden/Tage frei für Familienzeit.
• Fehler sind erlaubt
Ihr Kind soll Fehler machen dürfen und die Chance haben, einen eigenen Umgang damit zu finden. Dies fördert die Frustrationstoleranz.
• Alle Gefühle sind erlaubt
Sprechen Sie mit Ihrem Kind über seine Gefühle und geben Sie ihm die Möglichkeit, auch negative Gefühle auszuleben
• Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten
Machen Sie sich frei von Ängsten und Sorgen, dass Sie oder Ihr Kind nicht „mithalten“ können. Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl, denn Sie wissen am besten, was Sie und Ihr Kind wirklich brauchen.
• Gemeinsame Entscheidungen
Bei Hobbies und Förderangeboten: suchen Sie mit Ihrem Kind das aus, was „naheliegend“ ist, auch räumlich. So entfallen zusätzlich belastende Faktoren wie z.B. lange Fahrzeiten. Überlegen Sie gemeinsam, was wirklich sinnvoll und was vielleicht eher einem „Modetrend“ geschuldet ist. Oft gilt die Maxime „Weniger ist mehr“.
Achten Sie auf die Balance zwischen digitalem und analogem Leben und finden Sie Ihre eigenen Familienregeln für den Umgang mit Medien
• Ehrlichkeit gegenüber sich selbst
Welche unerfüllten Wünsche oder Ängste aus Ihrer Kindheit übertragen Sie eventuell auf Ihr Kind? (Welche eigenen Erfahrungen haben Sie mit der Schule gemacht? Soll Ihr Kind zum Ballett, weil Sie es früher nicht durften? Muss es Profifußballer werden, weil Ihnen eine Knieverletzung zum Verhängnis wurde?)
Was bedeutet Luxus für Sie? Die Anerkennung, die man erfährt, wenn man überall dabei ist? Wenn man gelobt wird, weil das Kind in Vereinen dabei ist und mehrere Instrumente spielt? (Luxus könnte doch z.B. auch bedeuten, sich hin und wieder einen Tag freizuhalten für das Nichtstun)
• Humor entlastet und kann helfen
Erziehung braucht bei aller Ernsthaftigkeit schlicht und einfach auch Leichtigkeit und Humor. Humorvolles Verhalten kann eine hilfreiche und entlastende Bewältigungsstrategie darstellen, denn so können wir uns von uns selbst oder unseren Misserfolgen distanzieren.
Humor, gerade in der Erziehung hat mit Liebe, mit Wohlwollen, mit Wärme und mit Wertschätzung des Kindes zu tun. Kinder, die Eltern erleben, die auch einmal über sich selbst lachen können, erleben Eltern, die unverkrampft mit eigenen Fehlern oder Scheitern umgehen. Das baut Stress und Ängste ab, ist Ausdruck von Kreativität, erhöht die Frustrationstoleranz, relativiert Probleme, signalisiert Friedfertigkeit und macht beliebt.
Verfasst von Kristin Frank, Sozialpädagogische Unterstützung am Gymnasium Olching